Mt 15,23: »Entlasse sie« oder: »Befreie sie«?

Mt 15,21–28 erzählt von einer Frau aus dem kanaanäischen Volk, die Jesus um Hilfe für ihre kranke Tochter anfleht. Jesus weigert sich. Doch die Frau lässt sich nicht abwimmeln. Jesu Jüngerinnen und Jünger schalten sich ein: »Apolyson auten, denn sie schreit hinter uns her«. Apolyson ist eine Form des Verbs mit der Grundbedeutung »loslassen«/»freilassen«, z. B. einen Gefangenen. In Mk 15,6–15 fragt Pilatus, ob er Jesus oder Barabbas »freilassen« soll. Es kann auch »fort­schicken« meinen, z. B. in Lk 16,18 im Zusammenhang mit Scheidung. Ist den Jüngerinnen und Jüngern in Mt 15,23 die schreiende Frau pein­lich und lästig? Wollen sie ihre Ruhe haben und fordern sie deshalb Jesus auf: »Lass sie doch gehen!«? So steht es in Luther (1984). Die Gute Nachricht schreibt: »Sieh zu, dass du sie los wirst!« Oder setzen die Jüngerinnen und Jünger sich bei Jesus für die verzweifelte Frau ein: »Erfüll ihr doch die Bitte!« (so die Neue Genfer Übersetzung) oder: »Befrei sie (von ihrer Sorge)!« (Einheitsübersetzung).
Die Wiedergabe von apolyson auten mit »Lass sie gehen!« wurde von der Reformation befürwortet. Diese Übersetzung wendete sich ge­gen die katholische Lehre, nach der Menschen sich mit dem Wunsch um Fürbitte an Heilige wenden können. Bibelübersetzungen der Re­formation wollten es unmöglich machen, sich dafür auf die Erzäh­lung von der kanaanäischen Frau zu berufen. Die Bibel in gerechter Sprache hat sich für die Wiedergabe »Befreie sie« entschieden, denn es ist der Grundbedeutung des Verbs sehr nah. Außerdem nimmt es ernst, dass zwischen Jesus und den Seinen um richtiges Verhalten gestritten werden kann, wie es auch andere Texte belegen, z. B. Mk 10,13–16, wo es um das Verhalten gegenüber Kindern geht.

ZUM WEITERLESEN:
• Crüsemann, Lebendige Widerworte