Mt 11,5 und Lk 7,22: »Arme verkündigen die Freudenbotschaft« oder: »Armen wird die Freudenbotschaft verkündigt?«

Eine der großen Entdeckungen der Bibel in gerechter Sprache ist der Text Mt 11,5 bzw. die Parallele in Lk 7,22: »Arme bringen frohe Bot­schaft.« In traditionellen Bibelübersetzungen, z. B. Luther (1984), ist hier zu lesen: »Armen wird das Evangelium gepredigt.« Erzählt der griechische Text wirklich, dass Arme Objekte und nicht Subjekte der Verkündigung sind?

Mt 115 und Lk 722
Blinde sehen
Lahme gehen
Aussätzige werden rein
Taube hören
Tote erheben sich
Arme euangelizontai

Die Verbform euangelizesthai (»frohe Botschaft bringen«/»Evangelium predigen«) steht im Medium, einer grammatischen Form im Griechi­schen, die als Aktiv oder Passiv übersetzt werden kann. Normaler­weise – so gängige Wörterbücher – ist es bei euangelizesthai aktivisch zu übersetzen. In Mt 11,5 und Lk 7,22 gehört es zu einer Kette von Ver­ben, die (bis auf »Aussätzige werden rein«) ebenfalls als Aktiv wie­derzugeben sind, allein schon weil die dazugehörigen Substantive im Nominativ stehen, also Subjekte sind. In diesem Sinne werden sie auch in gängigen Bibelübersetzungen wiedergegeben – mit einer Ausnahme: den Armen. Ihnen »wird das Evangelium verkündet« (Einheitsübersetzung). Grund für diese Ausnahme könnte die christ­liche Tradition in westlichen Kirchen sein, die in Armen Objekte von Fürsorge, Almosen und Verkündigung sieht. »Diese Almosenmenta­lität hat sich dort verändert, wo die Armen zu Wort gekommen sind: in der weltweiten Ökumene« (Schottroff). Die Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache legt offen, dass im Neuen Testament das Heil zu den Armen kommt, die aufstehen und die Freudenbotschaft wei­ter tragen. Nicht nur die Grammatik, sondern auch der Erzählfluss in beiden Evangelien begründet die Übersetzung der Bibel in gerechter Spra­che. Das Lukasevangelium z. B. baut es folgendermaßen auf: Als Je­sus das erste Mal öffentlich auftritt, liest er Worte aus Jes 61,1 in der Synagoge in Nazareth: »Die Geistkraft  „der Lebendigen“ ist auf mir, denn sie hat mich gesalbt, den Armen frohe Botschaft zu bringen. Sie hat mich gesandt, auszurufen: Freilassung den Gefangenen und den Blinden Augenlicht! Gesandt, um die Unterdrückten zu befreien, auszurufen ein Gnadenjahr  „der Lebendigen“ !« (Lk 4,18–19). Hier sind die Armen noch Objekte. Jesus ist der Aktive. Dann beginnt Jesu Wirken: Jesus heilt viele Menschen, darunter einen Mann mit Aussatz (Lk 5,12–15) und eine gelähmte Person (Lk 5,18–26). Der Sohn einer Witwe steht auf aus dem Tod (Lk 7,11–17). Was Jesus in der Synagoge gelesen hatte, erfüllt sich. Und es wird verbreitet: »In jeden Ort der Umge­bung drang die Nachricht über ihn« (Lk 4,37; ähnlich 5,15). Arme sind es, die die Freudenbotschaft weiter tragen, darunter eine Mutter, die Witwe ist: »Da setzte sich der Tote auf und begann zu reden, und Jesus übergab ihn seiner Mutter. Da wurden alle von Ehrfurcht er­griffen und lobten Gott und sagten: ›Ein großer Prophet ist unter uns aufgestanden‹. Und: ›Gott hat sich unserem Volk rettend zugewandt.‹
Und auf diese Weise verbreitete sich das Wort über ihn in Judäa, sowie im benachbarten Land« (Lk 7,15–17). In Lk 7,22 fasst Jesus die Er­eignisse zusammen: »Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige wer­den rein, Taube hören, Tote erheben sich, Arme bringen frohe Bot­schaft« (Bibel in gerechter Sprache).

ZUM WEITERLESEN:
• Sutter Rehmann, Menschen als Subjekte
Schottroff, Statement Lübeck