Mi 6,8: »Auf Gottes Wort hören« oder »Recht tun«?

In Mi 6,8 mahnt Gott mischpat an. Mischpat ist der wichtigste Rechts­begriff der Hebräischen Bibel. Er entspricht dem, was deutsche Re­dewendungen wie »ich habe ein Recht darauf« – »das ist mein gutes Recht« oder »das Recht einklagen« aussagen. Mischpat steht für das, worauf ein Mensch rechtlich Anspruch hat, z. B. das Recht der Töchter (Ex 21,9). Auf der anderen Seite ist mischpat das, was Menschen tun, um Recht und Gerechtigkeit zu verwirklichen. Dass solches oft nicht geschieht, beklagen prophetische Texte (z. B. Am 5,7; Jer 5,1). Mischpat bezeichnet auch ein Gerichtsurteil, eine Rechtsvorschrift oder die Rechtsordnung ganz allgemein, z. B. »das Recht zu den Völkern hin­ausbringen« (Jes 42,1); »Richtet auf im Tor das Recht!« (Am 5,15). Genauso wie die Bibel in gerechter Sprache übersetzen fast alle Bibeln mischpat in diesem Sinne, z. B. »Recht üben« (Elberfelder), »haltet euch an das Recht« (Hoffnung für alle/Gute Nachricht) oder »Recht tun/halten« (Einheitsübersetzung/Kleine Jerusalemer Bibel). Lediglich die Lutherübersetzungen von 1545 bis heute entscheiden sich für die Übersetzung »Gottes Wort halten«. Luther fügte 1545 als Anmerkung hinzu: »Das ist Glauben lieben und leiden«. Dahinter steht die Auffas­sung, das Gesetz sei durch das Evangelium abgelöst. Darum soll das Wort »Gesetz« in einer solch zentralen Gottesaussage wie Mi 6,8 nicht vorkommen, auch nicht, wenn es im Hebräischen steht. Der Kirchen­historiker und Theologe Heinrich Bornkamm schließt sich Luthers Umgang mit Mi 6,8 ausdrücklich an. Es sei »ein klassisches Beispiel für die Umwandlung des alttestamentlichen Moralismus in die Glaubens­haltung des Christen« (Luther und das Alte Testament, Tübingen 1948,
S. 201). Diese Position wertet die Auslegung höher als den biblischen Wortlaut und widerspricht darin Luthers eigener Forderung sola scrip­tura, nach der die kirchliche Lehre immer hinter dem zurückstehen muss, was der biblische Text sagt (10).

ZUM WEITERLESEN:
•  Albertz, »Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist«