Lk 8,43–48 und Mt 9,20–22: »Schaufäden« oder »Saum«?

Nach Num 15,37–41 sollen jüdische Menschen an ihrer Kleidung »Schaufäden« (hebräisch: zizit, griechisch: kraspedon) tragen. Es sind vier kunstvoll gedrehte Fäden am jüdischen Gebetsmantel (hebrä­isch: tallit). Sie erinnern daran, sich an der Tora Gottes zu orientieren. Das Wort »Schaufaden« wird von deutschsprachigen jüdischen Men­schen verwendet. Jesus ist so gekleidet, wie es der Weisung Gottes entspricht. In Lk 8,44 heißt es von der Frau, die schon zwölf Jahre an Blutungen litt: »Sie trat herzu, berührte von hinten die Schaufäden seines Gewandes.« Auf gleiche Weise übersetzt die Bibel in gerechter Sprache den Paralleltext in Mt 9,20. Die Wiedergabe mit »Schaufäden« zeigt, wie selbstverständlich und positiv die Evangelien Jesus und seine Nach­folgegemeinschaft in der jüdischen Tradition verankern. Sich an einem Schaufaden – und damit an der Tora, für die Jesus steht –, festzuhalten, heilt die Frau. Erschreckend ist ein Blick in das gängige altgriechische Wörterbuch Bauer-Aland. Es behauptet, kraspedon meine immer »Troddel« oder »Quaste«, »wie es der Israelit (…) nach Num 15,38–39 trug«, –außer wenn es um Jesus gehe. In diesem Fall sei immer mit »Saum seines Gewandes« zu übersetzen. Dieser Logik folgt auch Luther (1984), indem übersetzt wird: »Saum seines Gewandes« (Mt 9,20 , Lk 8,44). Es nimmt Jesus schon in seiner Kleidung aus dem Judentum heraus, obwohl das Griechische keine Veranlassung dazu gibt. Denn in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments wird zizit immer mit kraspedon wiedergegeben, z. B. in Num 15,38–39 und Dtn 22,12.

ZUM WEITERLESEN:
Frettlöh, Von der Heilkraft »ergreifenden« Vertrauens