Lk 1,28: »Sei gegrüßet, du Begnadete« oder: »Freue dich, du bist mit Gnade beschenkt«?

Die Bibel in gerechter Sprache bleibt auch hier nah am griechischen Text. Dort steht chaire, ein Grußwort, das zum Verb chairo: »sich freuen/fröhlich sein« gehört. Es kann mit: »Sei gegrüßt!« oder mit »Freu dich!« wiedergegeben werden. Dann folgt ein Partizip von charizomai. Es gehört zum Substantiv charis, das u. a. »Gnade«, »Güte«, »Freundlichkeit« bedeuten kann (72). Die Bibel in gerechter Spra­che übersetzt: »Freu dich, du bist mit Gnade beschenkt!« Luther hatte mit Lk 128 große Probleme. Er wollte gerne dem Original­text treu bleiben, fürchtete aber heftigen Protest aus der römisch-ka­tholischen Kirche. Luther war bewusst, dass Übersetzungen nicht all­gemein gültig sind, sondern immer mit der Lebenswelt zu tun haben, für die und in der sie entstehen. Luther schreibt im »Sendbrief vom Dolmetschen«: »Item, da der Engel Mariam grüßet und spricht: Gegrü­ßet seist du, Maria voll Gnaden, der Herr mit dir. Nun wohl, so ist’s bis­her einfach dem lateinischen Buchstaben nach verdeutschet. Sage mir aber, ob solchs auch gutes Deutsch sei? Wo redet der deutsch Mann so: Du bist voll Gnaden? Und welcher Deutscher verstehet, was da heißt: voll Gnaden? Er muss denken an ein Fass voll Bier oder Beutel voll Geldes; darum hab ich’s verdeutscht: Du Holdselige, worunter ein Deutscher sich sehr viel eher vorstellen kann, was der Engel meinet mit seinem Gruß. Aber hier wollen die Papisten toll werden über mich, daß ich den engelischen Gruß verderbet habe, wiewohl ich dennoch damit nicht das beste Deutsch habe troffen. Und würde ich hier das beste Deutsch genommen haben und den Gruß so verdeutscht: Gott grüße dich, du liebe Maria (denn soviel will der Engel sagen, und so würde er geredet haben, wann er hätte wollen sie deutsch grüßen), ich glaube, sie würden sich wohl selbst erhängt haben vor übergroßem Eifer um die liebe Maria, daß ich den Gruß so zunichte gemacht hätte.«

ZUM WEITERLESEN:
•  Martin Luther, Sendbrief vom Dolmetschen