Joh 1,1–18: »Wort« oder »Weisheit«?

Das griechische logos ist ein sehr weiter Begriff, der je nach Zusam­menhang »Wort«/»Weisheit«/»Rede«/»Sache«/»Fabel«/»Beweis«/ »Sprechen«/»Weissagung« bedeutet oder gar eine göttliche Größe bezeichnet. Kein deutsches Wort kann alle diese Nuancen fassen. Darum ist es nötig zu entscheiden, welcher Aspekt zum Klingen kommt (12). Die Rede von logos hat im Prolog des Johannesevangeliums große Bedeutung. Schon vor der Schöpfung war logos bei Gott (Joh 1,1). Mit logos knüpft Joh 1 an das Sprechen Gottes bei der Schöpfung an (Gen 1). Gleichzeitig ruft es den Bezug des Textes zur jüdischen Weis­heitsliteratur wach, wie wir sie u. a. in Spr 8 und Sir 24 finden. Dort spricht eine weibliche Gestalt, die chochma (hebräisch: »Weisheit«), die schon vor der Schöpfung an Gottes Seite war und mitgewirkt hat, als Gott die Schöpfung ins Leben rief. Dieses Denken war dem grie­chischsprachigen hellenistischen Judentum vertraut. Philo von Ale­xandria, ein jüdischer Philosoph und Zeitgenosse von Jesus und Paulus, hat viel nach dem Verhältnis biblischer Texte zur Philosophie des Griechen Platon gefragt. In einer seiner Schriften verbindet er logos mit chochma – Gottes Wort und Gottes Weisheit – zu einer Ein­heit. Dieser Tradition schließen sich die Übersetzerinnen in der Bibel in gerechter Sprache an, wenn sie Joh 1,1 übersetzen: »Am Anfang war die Weisheit, und die Weisheit war bei Gott, und die Weisheit war wie Gott. Diese war am Anfang bei Gott.« Laut Micha Brumlik, jüdi­scher Erziehungswissenschaftler und Publizist, haben sie damit »das Johannesevangelium in seinen jüdischen Kontext zurückgestellt«.

ZUM WEITERLESEN:
Brumlik, Weisung und Weisheit
Hartenstein, Logos und Weisheit