Gen 35,16–20 und 49,3–4: »Sohn meiner Kraft, meines Unheils«?

Zweimal kommt im Buch Genesis der Ausdruck ben oni vor. In Gen 35,18 sagt Rahel von ihrem Sohn Benjamin, er sei ein ben oni. In Gen 49,3 spricht Jakob von Ruben als ben oni. Ben heißt »Sohn«. Das Wort oni kann »mein Unglück« oder »meine Kraft«/»meine Stärke« bedeuten. Stefanie Schäfer-Bossert hat aufgedeckt, dass Bibelüber­setzungen und wissenschaftliche Auslegungen zu diesen Texten wie selbstverständlich davon ausgehen, bei Rahel sei es ein »Unheils­kind« (Einheitsübersetzung) oder »Sohn meines Unheils« (Buber-Rosenzweig). Dagegen nennt Jakob seinen Sohn »Erstling meiner Kraft« (Zunz) oder »meiner Mächtigkeit Anfang« (Buber-Rosenzweig) oder gar »meiner Zeugungskraft Erstling« (Einheitsübersetzung). Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein und derselbe Ausdruck im glei­chen Buch (hier: im Buch Genesis) und in vergleichbarem Zusam­menhang (Beziehung Elternteil – Kind) etwas anderes bedeutet, zu­mal ein genauer Blick in den Bibeltext zeigt, wie nah beide Male Glück und Unheil zusammenliegen. Rahel hat kein Kind so sehr er­sehnt wie Benjamin: also Glück. Die Geburt ist schwer, Rahel spürt, dass sie sterben wird. Sie gibt ihrem Kind den Namen ben oni. Jakob geht es nicht anders. Er ist stolz auf seinen erstgeborenen Sohn: Glück. Doch im gleichen Atemzug benennt er Leid: »Du hast ja das Bett deines Vaters bestiegen – damals hast du mein Lager entweiht, er hat’s erstiegen« (Gen 49,4). Wie in Gen 3,1 ( 59) nimmt die Bibel in gerechter Sprache das Heb­räische sehr ernst und versucht, diesen Zweiklang hörbar zu machen. Sie übersetzt
•     bei Rahel: »Da gab sie ihm den Namen Ben-Oni, ›Sohn meiner Kraft, meines Unheils.‹« (Gen 35,18)
•     bei Jakob: »Ruben, mein Erstgeborener bist du, … der Erstling meiner Kraft, meines Unheils.« (Gen 49,3)

Am Rand stehen Verweise auf die jeweils andere Bibelstelle als Ge­sprächstext (54).

ZUM WEITERLESEN:
Fokus Textgerechtigkeit
•  Schäfer-Bossert, Den Männern die Macht und den Frauen die Trauer?