Gen 1,26–28: »Herrschen« oder »niederzwingen«?
Die Übersetzung von Gen 1,26+28 klingt schärfer als in gewohnten Bibelübersetzungen: »Sie sollen niederzwingen die Fische des Meeres« (1,26). »Füllt die Erde und bemächtigt euch ihrer. Zwingt nieder die Fische des Meeres« (1,28). Im hebräischen Text stehen die Worte radah (1,26+28) und kabasch (1,28). Radah wird traditionell mit »herrschen« übersetzt, z. B. bei Luther und in der Einheitsübersetzung. Dadurch geht Wichtiges in Gen 1 verloren. Das Hebräische unterscheidet schon in den ersten Kapiteln der Bibel sorgfältig zwischen zwei Herrschaftsformen. In Gen 1,16+18 und 3,16 wird das Wort maschal verwendet. Es meint eine Herrschaft, bei der der Aspekt der Gewalt nicht im Vordergrund steht: Die Sonne herrscht über den Tag, der Mond über die Nacht (1,16+18). Ein König herrscht über sein Volk (2 Sam 23,3), Gott herrscht über Menschen (Ps 59,14). Radah dagegen ist politische und militärische Gewaltherrschaft ohne oder sogar gegen den Willen der Beherrschten. Dazu als Beispiel Lev 25,43+46+53: Gott prägt dem Volk ein, es dürfe keine gewalttätige Herrschaft (radah) von Menschen über andere Menschen im Volk geben. In Lev 2617 sagt Gott von Israels Feinden: »Die euch hassen, werden euch niederzwingen (radah).« Jes 14,6 klagt, dass die Schreckensherrschaft des Königs von Babel »die fremden Völker niedertrat (radah) mit Zornesschnauben«. Auch das Verb kabasch (Gen 128) beschreibt Gewalt, z. B. in Jer 34,11+16 und 2 Chr 28,10. Dort wird kritisiert, dass Menschen in die Sklaverei gezwungen werden (kabasch). In Neh 5,5 und Est 7,8 meint kabasch Vergewaltigung von Frauen. Mit diesen harten Worten kabasch und radah wird im ersten Kapitel der Bibel die Beziehung der Menschen zur übrigen Schöpfung beschrieben. Die Worte zu mildern verfälscht das im Hebräischen Ausgesagte. Sachlich ist jedoch nicht einmal das Töten von Tieren als Nahrung gemeint. Denn in Gen 1,29+30 ordnet Gott an, dass alle Lebewesen – Mensch und Tier – sich ausschließlich von Früchten und grünem Gewächs ernähren sollen. Es geht um die Vision einer Welt, in der kein Blut fließt und von der Jesaja träumt: »Dann wird der Wolf beim Lamm als Flüchtling unterkommen, und der Leopard wird beim Böckchen lagern; Kalb, Junglöwe und Mastvieh leben zusammen, ein kleines Kind treibt sie. Kuh und Bärin werden weiden, gemeinsam werden ihre Jungen lagern, und der Löwe wird wie das Rind Stroh fressen« (Jes 11,6–7). Wenn für Gottes sehr gute Schöpfung in Gen 1 harte Worte gewählt werden, dann spiegelt dies, dass auch eine bäuerliche Kultur mit Ackerbau und Viehzucht nicht frei von Gewalt ist. Beim Pflügen wird die Erde gewaltsam aufgerissen. Tiere zu zähmen, sie zu zwingen, Lasten zu tragen, ihnen ihre Milch zu nehmen oder sie zu scheren, um Wolle zu gewinnen, all das geschieht häufig gegen den Willen der Tiere – auch wenn es für die menschliche Kultur nötig ist. Übersetzungen mit »herrschen« bzw. »untertan machen« rücken den Gewaltaspekt in den Hintergrund, die Vergewaltigung der Erde, die im Hebräischen anklingt. Indem die Bibel solche Macht von Menschen über die Natur mit Gewalt-Begriffen bezeichnet, widerspricht sie gleichzeitig deren Ausufern, das z. B. von Tieren mehr verlangt als nötig. In Dtn 25,4 heißt es darum: »Binde dem Rind nicht das Maul zu, wenn es drischt.«
zum Weiterlesen: Fokus Textgerechtigkeit