Am 7,8: »Legt Gott ein Bleilot an« oder: »Legt Gott Zinn in die Mitte Israels«?

Das Buch Amos ergreift Partei für die Armen und Ausgebeuteten und konfrontiert Reiche und Mächtige mit ihrer Habgier und ihrem Machthunger. Es benutzt drastische Bilder und zeigt keine Scheu, Gott als kriegerisch und gewalttätig zu beschreiben, damit die pro­phetische Botschaft gehört wird, z. B. in Am 7,7–8:

Am 77–8
7So hat sie mich schauen lassen:
Siehe, die Macht stand auf einer Mauer aus Zinn,
und in ihrer Hand war Zinn.
8 „Gott“ sagte zu mir: »Was siehst du, Amos?« Ich sagte: »Zinn
Die Macht sagte: »Siehe, ich bin dabei,
Zinn in die Mitte meines Volkes Israel zu legen;
ich kann es nicht mehr verschonen.

9Die Kulthöhen Isaaks werden verwüstet,
verheert werden die Heiligtümer Israels.
Ich werde aufstehen gegen das Haus Jerobeam mit dem Schwert. Bibel in gerechter Sprache

Amos 7,7–8. 7
Er ließ mich abermals schauen, und siehe, der Herr stand auf der Mauer, die mit einem Bleilot gerichtet war, und er hatte ein Bleilot in seiner Hand. 8Und der Herr fragte mich: Was siehst du, Amos? Ich ant­wortete: Ein Senkblei. Da sagte der Herr: Sieh her, mit dem Senkblei prüfe ich mein Volk Israel. Ich verschone es nicht noch einmal, 9sondern die Höhen Isaaks sollen verwüstet und die Heiligtümer Israels zerstört werden, und ich will mich mit dem Schwert über das Haus Jerobeam hermachen.
Einheitsübersetzung

In Am 7,7–8 ist von anak die Rede. Anak ist ein Lehnwort aus dem Akkadischen und kommt nur hier in der Hebräischen Bibel vor. Sprachwissenschaftliche Forschungen haben ergeben, dass es nicht »Blei« meint, wie vielfach übersetzt wird, sondern »Zinn«. Zinn diente in Israel fast ausschließlich zur Legierung von Bronze, aus der Waffen hergestellt worden sind. In Am 7,7–8 geht es nicht darum, dass Gott prüft, ob in Israel alles gradlinig ist, d. h. mit rechten Dingen zugeht, wie es die Übersetzung mit »Bleilot«/»Senkblei« nahe legt. Der Pro­phet benutzt ein Kriegsbild: Gott wird Israel mit Schwert und Krieg überziehen, wenn in Israel das soziale Unrecht, die Verelendung und Ausbeutung der Armen nicht aufhören (Am 8,4). Die Übersetzung mit »Zinn« verwandelt den Text nicht in das Bild einer Inspektion, son­dern legt die Gewalt offen, die im Hebräischen gemeint ist: Gott droht mit Krieg und Schwert.

ZUM WEITERLESEN:
• Jeremias, Der Prophet Amos, besonders S. 101–103