Gerechtigkeit ist der rote Faden, der durch die gesamte Bibel führt und ihre Vielfalt zusammenhält. Jede Bibelübersetzung wird naturgemäß versuchen, dem gerecht zu werden. Die „Bibel in gerechter Sprache“ macht nun „Gerechtigkeit“ bewusst zum methodischen und für alle nachprüfbaren Ausgangspunkt einer Bibelübersetzung. Sie will dabei, wie alle Übersetzungen, dem Ausgangstext in heutiger Sprache „gerecht“ werden. Aber genau dabei sind die folgenden Gerechtigkeitsdimensionen durchgängig im Blick. Damit werden Entwicklungen und Debatten aufgenommen und zusammengeführt, die Kirche und Theologie im letzten halben Jahrhundert im Blick auf das Thema Gerechtigkeit geprägt und verändert haben.

Forschungsgerechtigkeit. 42 Übersetzerinnen – das gab es noch nie! – und 10 Übersetzer verantworten jeweils die von ihnen übersetzten biblischen Bücher. Die meisten haben an ihren Büchern lange wissenschaftlich gearbeitet und darüber publiziert. Sie stehen namentlich dafür ein, dass die Übersetzung dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion gerecht wird.

Der biblische Begriff der Gerechtigkeit unterscheidet sich von dem der heutigen Alltagssprache – aber auch von den meisten philosophischen bzw. wissenschaftlichen Definitionen – dadurch, dass er zuerst eine Handlung bezeichnet, und zwar eine, die auf Befreiung aus unterschiedlichen Notlagen resp. Unfreiheiten zielt. Für eine Bibelübersetzung heißt das, dass die befreienden Aspekte der Texte in heutiger Sprache wieder erkennbar werden sollen.

Geschlechtergerechtigkeit. Die Bibel entstammt einer massiv patriarchalischen Welt und ihre Sprache ist davon weitgehend geprägt. Aber gerade deshalb ist es so spannend zu entdecken – und dann auch in der Übersetzung sichtbar zu machen – wie Gottes Gerechtigkeit auch hier Dinge verändert. Beispiel: Paulus gewinnt in Athen „einige Männer“, zwei Namen werden genannt und „einer“ ist eine Frau (Apg 17,34). Solche, oft verborgene, Präsenz von Frauen wird entsprechend unserer heutigen Sprache durchgängig sichtbar gemacht. Dazu kommt, dass „der“ eine Gott nach biblischem Verständnis „kein Mann“ ist (Hos 11,9). Dem wird versucht, gerecht zu werden.

Gerechtigkeit gegen die jüdische Herkunft. Seit der Mitte des 2. Jahrhunderts war christliche Theologie fast ausnahmslos gegen das Judentum gerichtet. Das wirkte sich bis in die Bibelübersetzungen aus und war in der Sache wirklich ungerecht. Beispiel: In der Bergpredigt wird die Lehre Jesu durch die übliche Wiedergabe mit „Ich aber sage euch“ dem jüdischen Gesetz anscheinend entgegengesetzt (Mt 5,22.28). Doch zielt die Formulierung selbst nicht auf einen Gegensatz und inhaltlich wird die stark betonte Kontinuität zur Tora nicht beachtet (5,17-19). Sachgemäßer also ist: „Ich leg euch das heute so aus“. Die Bibel in gerechter Sprache bringt viele derartige Erkenntnisse aus dem christlichen-jüdischen Dialogs erstmals in eine Bibelübersetzung ein.

Gerechtigkeit für die großen Begriffe. In der heutigen deutschen Sprache stammen die meisten großen religiösen Begriffe aus der Lutherbibel und sind inzwischen weit von den konkreten Bedeutungen der Ausgangstexte abgerückt. Es ist eine Eigenart dieser Übersetzung, dass sie den Versuch macht, hinter den biblischen Zentralwörtern und ihren traditionellen Übersetzungen (man denke an „Herz“, „Gnade“, „Herr“ usw.) wieder die ursprüngliche Bedeutung offen zu legen. So wird das üblicherweise mit „Seele“ wiedergegebene Wort (néfesch) vielfach auf seine Grundbedeutung „Kehle“ zurückgeführt oder mit „Leben“ übersetzt, für das sie ein einleuchtendes Bild ist. Ein Glossar macht solche Entscheidungen und damit auch den Zusammenhang der neuen Wiedergaben mit der traditionellen religiösen Sprache auch ohne Kenntnis der alten Sprachen nachvollziehbar und überprüfbar.

Prof. Dr. Frank Crüsemann
September 2013